Kunst kommt von Können

Am 1. Jänner 2011 übernahm Ungarn die EU-Präsidentschaft, und der Pianist Sir András Schiff zweifelte in einem Leserbrief an die Washington Post Ungarns Befähigung und Berechtigung dazu an, unter anderem mit den folgenden Begründungen: „Die Toleranzlevels sind extrem niedrig. Rassismus, Diskriminierung von Roma, Antisemitismus, Xenophobie, Chauvinismus und reaktionärer Nationalismus sind zutiefst besorgniserregende Symptome.“ Schiff wurde und wird seitdem aus Ungarn bedroht, zum Beispiel damit, dass man ihm die Hände abhacken würde. Er nimmt diese Bedrohungen so ernst, dass er in seinem Heimatland seither nicht mehr auftritt, auch wenn er neulich in einem Interview für den Deutschlandfunk die Lage als schlimm, aber nicht hoffnungslos einschätzte und der Passivität des Volkes, das Orbán gewählt hat, zuschrieb: „Sie wollen Fußball, Würstchen und ein bisschen Sex – der Rest interessiert sie nicht.“

Sir András Schiff, Jahrgang 1953, war wohl immer schon ein politischer Mensch: Auch seine damalige Wahlheimat Österreich griff er an, als die FPÖ 1999 in die Bundesregierung kam, und sagte für das Jahr 2000 alle Konzerte in Österreich ab. Überhaupt steht er zu seinen Prinzipien, auch wenn er im Laufe seines langen musikalischen Lebens doch auch manche seiner Meinungen geändert hat. Seit vielen Jahren reist er aus oftmaliger Unzufriedenheit mit dem bereitgestellten Instrument mit seinen eigenen Flügeln, von denen er „zu viele, vielleicht zehn oder zwölf“ besitzt. Darunter ist ein besonders bemerkenswerter: Ein Hammerflügel von Franz Brodmann, gebaut ungefähr 1820, den er dem Beethovenhaus in Bonn als Dauerleihgabe zur Verfügung stellt. Auf ihm hat er – dreißig Jahre nach seinen Maßstäbe setzenden Schubert-Einspielungen für Decca – nun eine Doppel-CD mit Werken von Franz Schubert für Manfred Eichers Boutique-Label ECM aufgenommen (ECM New Series 2425/26). Der Booklettext ist überschrieben mit „Bekenntnisse eines Konvertiten“; eine Anspielung auf seine Reise vom modernen Flügel zum Hammerklavier.

Letztendlich ist es dieser Text, der die Schönheit der Aufnahme greifbar macht: Der Weg von Beethovens eigenem Hammerflügel über Mozarts Walter-Klavier, denen beiden Sir András Schiff auf Tonträger ein Denkmal gesetzt hat, zum vertieften Studium des historischen Instrumentariums im Allgemeinen. Für Pianisten seiner Generation ist es eine Seltenheit, für die heutige junge Generation sollte es jedoch Pflicht sein, denn es verändert die Sicht auf die modernen Instrumente. Diese ECM-CD ist bereits mit Jubel überhäuft worden, und dem kann ich mich hier nur anschließen. Der kleinen „Ungarischen Melodie“ folgt auf der ersten CD die G-Dur-Sonate D 894. Die Transparenz und Intimität des Hammerflügels ist so beglückend eingefangen, dass man das Gefühl hat, einem Konzert beizuwohnen, dessen einziger Zuhörer man sein darf. Besonders die Übergänge sind es, die Schiffs Schubert-Spiel kennzeichnen: keine unnatürlich gewollten Temporückungen, nur Farbwechsel, wie sie auftreten, wenn sich eine Wolke vor die Sonne schiebt oder der Mond aufsteigt: Beide warten ja auch nicht, bevor sie in unser Blickfeld rücken, sondern plötzlich und oft ohne dass man es wahrnimmt, ist es anders als vorher. Schiff „erklärt“ uns diese Musik nicht, sondern setzt sie uns vor wie ein Naturschauspiel. Dem Allegretto D 915 und der „großen“ Impromptu-Reihe folgt auf der zweiten CD die monumentale letzte Sonate, und selten hat man das „con delicatezza“ des Scherzo-Titels so deutlich vor Ohren geführt bekommen wie hier.

„Es sind die leisen und leisesten Töne, mit denen Schubert […] unsere Herzen berührt“, schreibt Schiff in seinem Booklettext. Wahrlich kann man diese CD nicht im Auto und auch nicht nebenher hören. Ich empfehle gedämpftes Licht, ein sehr gutes Getränk und eine bequeme Couch. Und Stille.

Zuhörer, die vor dem großen Gewitter die Rollläden herablassen oder den Sonnenaufgang lieber auf nachbearbeiteten Postkarten sehen, werden diese Aufnahme langweilig oder monochrom finden. Alle anderen werden nicht umhinkommen, mir beizupflichten, dass Sir András Schiff hier nicht eine weitere x-beliebige Schubert-Aufnahme vorlegt, sondern seine Ausnahmestellung im heutigen Konzertbetrieb mit einem Bekenntnis zum Wesentlichen, ganz ohne Effekthascherei, manifestiert. „Kunst“ kommt von „Können“, und das englische Wort für Klavier („Piano“) heißt eigentlich nur „leise“. Hier wird man daran erinnert.

Dieser Artikel erschien zum ersten Mal in NU – Jüdisches Magazin für Kultur und Politik 4/2015.

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Kunst kommt von Können

Drei Sekunden Ewigkeit – András Schiffs fünfte Beethoven-CD

Wieso maßt sich ein Irdischer an, über eine Götterkonferenz zu schreiben? Wahrscheinlich aus Neid, nicht dazuzugehören … András Schiff, Pianist, Musiker und Musikant, hat im Konzert bereits den gesamten Kosmos der Beethoven-Klaviersonaten durchschritten. In seinem Kopf und seinem Herzen sicher schon jahrzehntelang und immer wieder, aber nun lässt er uns daran zwiefach teilhaben: In den großen Konzertsälen der Welt und, dank dem CD-Label für Connaisseurs (Manfred Eichers ECM New Series), nun auch zu Hause. Die CD ist – wie immer – makellos aufgemacht, klingt fabelhaft (man hört sogar den Unterschied zwischen Bösendorfer und Steinway!) und ist einmal mehr mit einem wunderbaren Booklet ausgestattet, worin wieder Teile der Gespräche abgedruckt sind, die Martin Meyer mit András Schiff über diese Werke geführt hat. Wem selbst dieses Booklet noch zu wenig informativ ist, dem sei das inzwischen erschienene Buch ans Herz gelegt.

Interpretationsvergleiche von Werken scheinen mir vollkommen sinnlos. Man vergleicht ja auch nicht Picasso mit Dalí, selbst wenn es zufällig von beiden ein Bild mit demselben Titel geben sollte. Es ist schlichtweg nicht von Interesse, ob Kempff, Gulda, Annie Fischer oder Claudio Arrau einen Satz schneller oder langsamer spielen, nein, nicht einmal, ob sie ein bestimmtes sforzato stärker spielen als András Schiff oder nicht. Das ist, man verzeihe mir das derbe Wort, Klugscheißerei. Worüber es also zu berichten gilt, wenn sich ein Musiker vom Rang eines András Schiff dem Neuen Testament der Klavierliteratur nähert, ist lediglich, ob diese Näherung gelungen scheint.

Gleich vorweg: Sie scheint nicht nur gelungen, sie ist es. Natürlich, wie bei allen großen, ja beinahe übermenschlichen Musikanten, wie Schiff einer ist, ist das Resultat ein absolutes und persönliches zugleich. Natürlich könnte man ausführlich über seine Pedaltechnik sinnieren, inwieweit sie von seiner Kenntnis der Instrumente der Beethoven-Zeit beeinflusst ist. An vielen Stellen (so etwa besonders im ersten Satz von op. 31/2) fällt es zumindest auf, da man eine Hörgewohnheit hat. Ob es die richtige war, ist vollkommen fraglich. Natürlich könnte man darüber schreiben, dass er sich gelegentlich sehr freizügig über dynamische Anweisungen oder sforzati hinwegsetzt.

Doch all das zählt nicht. Jeder, der diese Begegnung zweier Titanen live miterlebt hat, weiß, warum. Es ist erklärt im Moment des Hörens, wenn man es wirklich schafft, die eigenen Ohren zu so öffnen, dass sie die direkte Verbindung zum Herzen nicht durch intellektuelle Pseudowissenschaft gestört ist. Wer das kann, der bekommt Beethovens Geist durch András Schiffs Kopf und Herz – was für ein Glücksmoment! Solche Kraft, Poesie, Spannung und zugleich Demut vor dem Werk hört, nein: spürt man selten. Ganz abgesehen von der technischen Ausführung – über Schiffs pianistische Fähigkeiten auch nur ein Wort zu verlieren, ist Zeitvergeudung. Er kann das, was er da macht; ja, mehr als das: Er kann auf das Klavier als eine seiner so zahlreich gesprochenen Sprachen zählen.

Nach den Sonaten op. 31 wird die „Waldstein“-Sonate in dieser Aufnahme zur Offenbarung, und op. 31/1 zeigt eine Facette an Beethoven, die man selten hört: Leichtigkeit. Interessanterweise ist es in G-Dur, wie auch schon der zweite Satz der Cellosonate op. 5/2 – auch unbeschwerte Musik.

Jeder Moment, den man einen Komponisten, besonders einen der Klassik, durch András Schiff sprechen hören kann, ist ein kostbarer. Zusammen ergeben sie vielleicht drei Sekunden Ewigkeit. Um so mehr ist es bedauernswert, dass das Konzert vom kommenden Sonntag im Theater an der Wien, in dem die Opera 49, 14 und 22 erklungen wären, auf Frühjahr 2009 verschoben wurde.

Drei Sekunden Ewigkeit – András Schiffs fünfte Beethoven-CD