Es lebe der König

Gert Voss ist König Lear

Luc Bondy ist ein großer Regisseur, er traut sich, eine wunderbare Übersetzung in voller Länge zu spielen (ohne Fäkalsprache und bei Hausmeister Krause gelerntes Piefkenesisch) und findet das Maß, die unbarmherzige Grausamkeit dieses Stückes auf die Bühne zu bringen, ohne dass es auch nur eine Sekunde lang ordinär wird. Er schafft es, nicht sichtbare Dinge (etwa die große Schlacht am Ende) rein optisch zu suggerieren, ohne Figuren hinzuerfinden zu müssen, die in minderwertiger Sprache Kürzungen und regiehafte Einfallslosigkeit (diese Vokabel nur um nicht zu sagen: Unfähigkeit) rechtfertigen wollen. So wie in diesem König Lear sieht gut gemachtes Regietheater aus, und gegen dieses Regietheater wird niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand ist, etwas einzuwenden haben.

LearGert Voss ist König Lear. Er spielt ihn nicht, er ist es. Voss, der vom Himmel begnadete, – nein: König Lear jagt dem Zuschauer so oft die Gänsehaut den Rücken hinunter, dass der Begriff „Zuschauer“ nicht mehr passt. Man ist Mitfühler, im besten Sinn des Wortes. Voss’/Lears Körper, seine Seele durchlebt dieses Schicksal, gestisch, mimisch, psychisch und physisch, bis hin zur Stimme. Nichts ist „gemacht“. Hier ist ein wahrer, echter, großer Künstler.

Alle anderen Schauspieler agieren auf dieses Genie ausgerichtet und auf höchstem Niveau (besonders hervorzuheben natürlich Martin Schwab als Graf von Gloucester und Birgit Minichmmayr als Narr). Die Stärken von Philipp Hauß und Christian Nickel als Gloucesters Söhne lernt man im Laufe des Stückes immer mehr schätzen. Die Kostüme von Rudy Sbounghi sind wirklich als solche zu bezeichnen: Ein klares, schlüssiges und berührendes visuelles Konzept ist zu sehen – und trotz physischem Dreck auf der Bühne (Richard Peduzzi) ist es niemals schmutzig. Selbst die Nacktheit des Edgar, minutenlang, ist nicht die so oft zu beklagende Pflichtnudität; nein, sie macht einem das Schicksal dieses armen Menschen um so eindringlicher bewusst.

Wenn am Ende Klaus Pohl als Graf von Kent die Worte spricht „Lasst ihn sterben! Das Leben wollte ihn schon lange nicht mehr“, nur Sekunden später gefolgt von „Es ist ein Wunder, dass er so lange durchgehalten hat“, bleibt die Zeit stehen.

Und so – so! – lässt sich ein Stück ohne Vorhang beenden: „Das Rad hat sich einmal ganz gedreht“, heißt es vorher bei Edmund, Gloucesters Bastard. Analog zum ersten, scheinbar fröhlichen Beisammensein von König Lear und seinen Töchtern, werden nun die Leichen dieser verfluchten Familie am Bühnenrand der Trauer anheimgelegt, mit unbarmherzig weißem Licht im ansonsten dunklen Theater beleuchtet.

Weltklasse. Warum nur so selten in diesem unserem einstmalig unbestritten zur Weltklasse zählenden Theater?

3Sat und ARTE haben heute aufgezeichnet – suchen Sie in der Programmzeitschrift. Oder, noch viel besser: Gehen Sie hin! Am 1., 3. oder 4. November. Wenn Sie das nicht tun, ist Ihnen etwas entgangen, dessen Versäumen Ihnen leid tun soll.

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Es lebe der König