Urtext?

Seit der inzwischen legendären „Neuen Mozart-Ausgabe“ steht der Begriff „Bärenreiter Urtext“ nicht nur für Texttreue, sondern auch als eigenständige Marke. Besonders in den letzten zehn Jahren sind für uns Streicher zahlreiche neue Ausgaben erschienen, die die Interpretation von Standardwerken (wie etwa den Cellosonaten und Streichquartetten von Beethoven, die Duo-Sonate von Ravel, die Konzerte von Elgar, Lalo und Dvorak und viele andere) auf vollkommen neue Füße stellen. Bärenreiter hat – soweit ich das beurteilen kann – mit seinem Herausgeberteam größte Sorgfalt walten lassen, sodass im gedruckten „Urtext“ wirklich nur die Dinge aufscheinen, die die originalen Quellen der Komponisten (Manuskripte, verbürgte Abschriften und/oder Erstausgaben) hergeben.

Als wir 2003 die Serie von Etüdenausgaben begonnen, haben wir uns – aus Gründen, die vielfach diskutiert und an anderer Stelle auch ausführlich publiziert wurden – gegen „Urtext“ausgaben entschieden, sondern vielmehr eine Reihe von spielpraktischen Ausgaben vorgelegt und nie den Anspruch erhoben, den „Originaltext“ wiederzugeben. Erstaunlicherweise hat sich gezeigt, dass allein die Marke Bärenreiter den „Urtext“-Reflex hervorzurufen scheint, weshalb sich manche kritische Stimmen bemüßigt fühlten, etwas zu kritisieren, was es nicht gab. Anders die Lage bei David Poppers Suite „Im Walde“, der wir zwei Cellostimmen beigelegt haben: Eine, wie sie in der Erstausgabe bezeichnet war, und eine andere, die meine herausgeberischen Vorschläge enthielt (Striche, Fingersätze). Es freut mich zu sehen, dass dieses Beispiel mehr und mehr Schule macht. Hervorragende Neuausgaben (etwa von Schumanns „Adagio und Allegro“ bei Henle) scheinen diesem Beispiel immer mehr zu folgen.

Und doch begegnen mir im Alltag immer mehr enttäuschende Ausgaben, die den vielversprechenden Titel „Urtext“ tragen; ein paar davon mögen als Beispiele dienen: In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts publizierte Max Reger bei Peters drei Suiten für Violoncello solo op. 131c. Peters verkauft bis heute – ohne das Attribut „Urtext“ – eine druckqualitativ zwar schlechte, aber unveränderte Reproduktion dieser ersten Ausgabe, frei von Zusätzen anderer Herausgeber oder Fingersatz- bzw. Strichbezeichnungen von Cellisten, die optisch genau jener Ausgabe gleicht, die der Komponist vor mehr als 100 Jahren vermutlich freigegeben hat, denn sonst wäre sie ja nicht erschienen. Henle nun hat vor nicht so langer Zeit eine „Urtext“-Ausgabe der Regerschen Cellosuiten vorgelegt, die voll von – vielleicht sogar sehr guten – Fingersätzen und Strichbezeichnungen ist. Für Nichtstreicher sei kurz erklärt: Strichbezeichnungen sind nicht nur für Auf- und Abstrich wesentlich, sondern vor allem auch für die Artikulation, d.h. für den Beginn und das Ende von Legatobögen. Wenn man in einen langen Phrasierungsbogen Striche einzeichnet, trifft man musikalische Artikulationsentscheidungen, die weit über eine technische Umsetzung hinausgehen. Ebenso Fingersätze: Sie legen Glissandi, Klangfarben und andere wesentliche Interpretationsmerkmale fest, die ein deutlicher Eingriff in die blanke Notenlandschaft des Komponisten sind. Die Regerschen Cellosuiten (und leider gilt das für sehr viele andere Henle-Ausgaben auch) sind also geradezu eine Perversion der Situation: Die nicht als „Urtext“ gekennzeichnete alte (Peters-)Ausgabe ist der eigentliche Urtext, die Henle-„Urtext“-Ausgabe ist weit davon entfernt, so gut die Bezeichnungen des Kollegen auch sein mögen. Gleiches gilt übrigens für Mozart-Klavierkonzerte mit Fingersätzen und Kadenzen des unvergleichlichen und sicher dazu berufenen András Schiff, aber leider: auch das ist kein „Urtext“, sondern eine interpretatorische Ausgabe.

Ein ganz anderes Problem bieten die Bachschen Cellosuiten: hier kursieren zahlreiche „Urtext“-Ausgaben, von der inzwischen legendären Wenzinger-Edition bis hin zu neuen Heften bei Peters, Bärenreiter und Henle. Was aber ist der „Urtext“ bei einer Werksammlung, bei der man nichts anderes hat als zwei gleichwertige, aber sehr voneinander abweichenden Quellen? Hier müsste es mindestens zwei „Urtext“-Ausgaben geben: eine nach Anna Magdalena und eine nach Johann Peter Kellner, und selbst das wäre meiner Meinung nach schon eine weite Dehnung des Begriffs. Bärenreiter hat auch hier eine wissenschaftlich vorbildliche Ausgabe vorgelegt, die alle fünf relevanten Faksimiles enthält. Bedauerlicherweise ist der Cellist aber in dem Teil, aus dem man spielen sollte, vor ein unlösbares technisches Problem gestellt; hier stößt man auf einen Buchstabenfriedhof, der über-, neben- und untereinander alle Quellen in einer Ausgabe zu vereinen sucht, was nicht nur unmögliche Wendestellen, sondern auch beim Üben ultimative Konfusion erzeugt. Im Idealfall gäbe es eine weitere Fassung, in der bei allen fraglichen Stellen blanke Flecken wären, in die der Cellist seine Wahl (Anna Magdalena Bach oder Johann Peter Kellner) mit der Hand eintragen könnte. Aber „Urtext“ ohne Manuskript UND ohne gesichert vom Komponisten freigegebenen Erstdruck oder eine solche Abschrift?

Bei den Brahmsschen Cellosonaten stößt man auf gleich drei „Urtext“-Ausgaben (Wiener Urtext Edition, Henle und Breitkopf), in denen die berühmte Tremolostelle in op. 99 im Cello verschieden aussieht, die e-Moll-Sonate dynamische Unterschiede zeigt und die alle voll von Fingersätzen sind, und das, wo es für op. 38 eine hervorragende Reproduktion der Simrockschen Erstausgabe gibt, die ganz sicher von Brahms freigegeben wurde, und für op. 99 das ziemlich klare Manuskript samt vom Komponisten korrigierte Erstausgabe bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien vorgibt, was der „Urtext“ eigentlich wäre …

Bei zeitgenössischen Komponisten stellt man ja die Frage gar nicht; niemand käme auf die Idee, ein neues Werk von John Adams als „Urtext“-Ausgabe zu verkaufen; was also ist die Faszination? Zunächst ist es ganz einfach ein Marketinggag, der dem Käufer vorgaukelt, dass dieses Produkt besser, authentischer und was sonst noch alles ist. Dann aber natürlich ist die Hoffnung, dass man als Interpret dort weitermachen kann, wo der Komponist den Notentext hinterlassen hat ohne erst einmal mit der Interpretation anderer Kollegen „kämpfen“ zu müssen. Natürlich gibt es sehr viel FÜR bezeichnete Ausgaben zu sagen, besonders in drei Fällen: bei besonders komplizierter Musik, wenn die Bezeichnungen von dem Interpreten sind, mit dem der Komponist das Werk zunächst erarbeitet hat (so etwa im Elgar-Cellokonzert, wo Beatrice Harrisons Bezeichnungen in Elgars Partitur eingeflossen sind) oder für Amateure und junge Musiker, die (noch) nicht über genügend instrumentale Fähigkeiten verfügen, um eigenständig gute Fingersätze und Striche zu finden. Besonders hier ist aber der Lehrer gefragt, auszuwählen, welche Ausgaben in sein pädagogisches Konzept passen. Es scheint logisch, dass Ausgaben von Fournier oder Rostropovich desselben Stücks vollkommen andere instrumentale Lösungen für dieselbe Stellen finden. In einer idealen Welt hat der Lehrer aber genügend Zeit, mit dem Schüler gemeinsam in eine leere Ausgabe Fingersätze und Striche zu erarbeiten, sodass der Schüler die Methoden lernt.

Die perfekte Ausgabe heutzutage ist für mich aber immer noch der unberührte Notentext, so wie der Komponist ihn hinterlassen hat, und – wenn es denn sein muss, um den Verkauf zu fördern – eine zusätzlich beiliegende bezeichnete Stimme. Das Wort „Urtext“ hat aber auf Ausgaben, denen irgendjemand irgendetwas anderes als einen kritischen Kommentar und/oder einen Editionsbericht beigefügt hat, meines Erachtens nichts verloren.

Werbung
Urtext?