
Liebe Studierende, liebes Publikum!
Wenn vor einer Vorstellung oder einem Konzert der Hausherr auf die Bühne oder vor den Vorhang kommt, heißt das normalerweise nichts Gutes. Hier muss ich einen Film der Cohen-Brüder zitieren: „Would that it were so simple.“ Ich wünschte, es wäre so einfach.
Wie gerne hätte ich Sie ganz einfach nur begrüßt, und noch nie hätte ich lieber eine Programmänderung bekanntgegeben als heute. Es bleibt aber alles, wie es im Programmheft gedruckt ist, was mich in Zeiten wie diesen jedoch besonders freut.
Daher zum schwierigen Teil. Ich würde mich gerne kurzfassen, fürchte aber, dass mir das nicht ganz gelingen wird, und bitte Sie dafür um Ihr offenes Ohr.
Seit zwei Jahren ist die Welt fest im Griff der Covid-19-Pandemie, und besonders für die Generation unserer Studierenden ist diese Pandemie – um Frau Merkel zu zitieren – eine „demokratische Zumutung“. Jetzt, seit drei Wochen, kommt etwas hinzu, was den Begriff „demokratische Zumutung“ geradezu als Verharmlosung scheinen lässt. Quasi vor unserer Haustür findet eine militärische Auseinandersetzung statt, die unendliches Leid für sehr viele Menschen bedeutet. Familien müssen ihre Väter, Brüder und Söhne in den Krieg schicken. Alte, Frauen und Kinder sind auf der Flucht.
Im Gegensatz zur demokratischen Zumutung der Pandemie, der wir – von kläglichen Bekämpfungsversuchen der Politik abgesehen – erstaunlich hilflos ausgeliefert sind, hoffen wir irgendwie, der demokratischen Zumutung dessen, was derzeit in der Ukraine stattfindet, weniger hilflos ausgeliefert zu sein, weil wir „etwas tun können“.
Als Privatperson glaube ich an Aktion, nicht an Aktionismus. Für mich persönlich ist der Unterschied ganz einfach: Aktionismus bedient die eigene Befindlichkeit, Aktion hilft anderen. In allen Entscheidungen, die ich in schwierigen Situationen beeinflussen kann, hoffe ich, diesen Grundsatz zu beherzigen.
Als Universitätsangehöriger bin ich überzeugt, dass wir verantwortlich sind, besonders unsere Studierenden dazu zu ermutigen, Aktion immer vor den Aktionismus zu setzen. Wir haben daher bisher im Rahmen unserer Möglichkeiten versucht, Aktionen zu setzen, indem wir Mitarbeiter*innen, Studierenden und Studienbewerber*innen aus der Ukraine unkomplizierte Hilfe verschiedener Art angeboten haben und zuteilwerden lassen, aber auch jenen Universitätsangehörigen, die indirekt von den Geschehnissen betroffen sind – etwa russische oder belarussische Staatsangehörige – in vielfältiger Weise hoffen zu unterstützen.
Wir als Angehörige der Anton Bruckner Privatuniversität stehen für Menschen, nicht für Länder. Unsere fast 1.200 Universitätsangehörigen kommen aus 46 Ländern, darunter Belarus, Iran, Kolumbien, Mexiko, die Russische Föderation, Syrien, die Türkei und die Ukraine.
Derzeit toben auf der Welt rund 20 große Kriege – das heißt solche Konflikte, die mehr als 1.000 oder gar mehr als 10.000 Menschenleben jährlich fordern, manche davon seit Jahrzehnten. Afghanistan, Äthiopien, Myanmar, Jemen, Kongo, Mali, Mozambique, Nigeria, Ruanda, Somalia, Sudan, Tigray, Zentralafrika, der Boko-Haram-Konflikt, aber auch der Irak, Kolumbien, Mexiko, Syrien, der Kurdenkonflikt in der Türkei und natürlich die Ukraine. Laut UNO sind 2021 rund 83 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht gewesen; die Schicksale vieler davon – das müssen wir beschämt zugeben – haben wir, die weißen Europäer, in vergangenen Jahren auf dem Gewissen.
In den letzten beiden Wochen sind zwei Millionen Flüchtende hinzugekommen, deren Leben uns erschreckend nahe ist: räumlich, kulturell, optisch. Auch wenn es mir fast die Tränen in die Augen treibt: Wir werden von hier aus keinen der Kriege in den Ländern, die ich vorhin aufgezählt habe, stoppen können, schon gar nicht durch Aktionismus, aber leider auch nicht durch Aktion.
Durch Aktion aber können wir Menschen helfen – übrigens nicht nur im Krieg. Ich habe daher an Sie alle zwei Bitten:
Helfen Sie uns bei unseren Aktionen. Wir haben ein Spendenkonto eingerichtet, dessen Details Sie auf der Rückseite des Programmheftes finden, und draußen auch für niederschwelliges Spenden eine Box aufgestellt. Sie können sicher sein, dass jeder Euro entweder direkt bei unseren betroffenen Universitätsangehörigen ankommt oder im Sinne der direkten Hilfe einer entsprechenden Spendenaktion zugeführt wird.
Besinnen wir uns aber auch auf die Möglichkeiten, die wir alle einzeln haben: Vom Hinschauen (statt wegschauen), der manchmal so sehr herbeigesehnten Frage: „Wie geht es Dir?“ bis hin zu: „Kann ich Dir helfen?“. Ich bemühe mich, beide Fragen mindestens einmal täglich einem Menschen außerhalb meiner Familie bewusst zu stellen.
Meine zweite Bitte ist daher das fortwährende Hinschauen. Wir sind zum Hinschauen verpflichtet. Jetzt besonders, aber auch, wenn etwas vermeintlich weit weg ist. Was für uns weit weg ist, ist für jemand anderen ganz nah.
Die Aufgabe einer Kunstuniversität ist nicht, Flaggen zu hissen oder Hymnen zu singen. Die Aufgabe ist, den Studierenden Nächstenliebe, Respekt vor allen Menschen und Mut zur Aktion nachhaltig zu vermitteln und die Gesellschaft daran zu erinnern.
Die Aufgabe ist, Fragen zu stellen und den Studierenden den Mut und die Fähigkeiten zum Fragestellen zu geben. Schon „Kann ich Dir helfen?“ ist eine sehr schwierige Frage, wenn man die Antwort ernst nimmt.
Die Aufgabe heute ist, den Menschen, denen Musik im Leben hilft, Musik – und daraus Kraft und Hoffnung – zu geben.
Heute Abend ist nämlich für unsere Studierenden hier auch schon eine Hoffnung in Erfüllung gegangen: Wieder live und vor Publikum miteinander Musik machen zu können und damit Ihnen hier im Saal und dem Publikum des Livestreams Hoffnung und Freude geben zu können. Für mich geht die Hoffnung in Erfüllung, dieses wunderbare Haus wieder mit so vielen Studierenden belebt zu sehen und Sie alle hier zu haben.
Am Ende des Programms werden Sie Bernstein’s gloriose Symphonische Tänze aus der West Side Story hören. Das berühmte „Somewhere“ hat zum Text: „Somewhere there’s a place for us”. Irgendwo gibt es einen Platz für uns.
Dieser Song sollte unsere Hymne sein, denn Millionen Menschen in der Ukraine müssen gerade im Sinne des „Irgendwo gibt es einen Platz für uns“ den Mut zur Flucht ins Ungewisse aufbringen.
83 Millionen Menschen, die laut UNO 2021 auf der Flucht waren, hatten denselben Mut. Schauen wir hin!
Somewhere there is a place for us.